Tatsiana Yukhnavets

«Ich komme aus Weissrussland. Wir haben unsere Kriegsgeschichte noch nicht ganz hinter uns. Ich dachte, das ist eine Zeit, in der ich das nachfühlen kann, wie es ist jemanden zu verlieren. Abstand zu jemandem zu haben. Jemanden aus den Augen zu verlieren. Das war die Zeit damals. Heute würde ich sagen, ich habe mich besser kennengelernt – besonders durch die Arbeit. Früher habe ich mir ein Ziel gesetzt, eine Strategie entwickelt und das Ziel erreicht. Jetzt habe ich verstanden, dass es kein Ziel gibt. Denn es kann sich von heute auf morgen alles ändern. Jetzt muss ich lernen, ohne Ziele leben zu können. Das Leben folgt nicht unseren Plänen, es ist wie es ist. Es gibt nur diesen Moment. Jetzt und hier. Das habe ich in dieser Zeit gelernt. Vor kurzem habe ich noch einmal «Die Beichte» von Leo Tolstoi gelesen. Im Original und anschliessend auf Deutsch. Ich habe verglichen und nach dem Sinn des Ganzen gefragt. Es gibt keinen. Es gibt eine Motivation. Aber nicht durch mich selbst. Es gibt die Dinge und die Personen, für die und durch die ich mich weiterentwickle. Dass ich jeden Tag um fünf Uhr aufstehe und zur Arbeit gehe. Am Ende des Tages schliesse ich dann die Tür, habe meine Arbeit gut gemacht, mit gutem Gewissen und gehe heim. Dort wartet jemand auf mich. Das ist meine grösste Motivation. Auch, dass ich trotz allem unter Menschen bin. Dass ich noch immer Kontakte habe, nicht arbeitslos werde, immer noch Lohn bekomme – so banal das auch klingen mag. Das motiviert. Man muss sich diese Argumente suchen, um nicht depressiv zu werden.»