«Narben brauchen Zeit.»

Die Nachsorge verlangt von den Patientinnen viel Geduld. Denn nicht nur der Körper braucht Zeit, um zu heilen. Auch das Vertrauen in den eigenen Körper wiederzufinden, ist ein langwieriger Prozess. Ein Prozess, der Jahre in Anspruch nehmen kann. Ein Gespräch mit Frau Dr. med. Antonia Schmidt-Jakob, Fachärztin Gynäkologie und Geburtshilfe, Brustzentrum Bern, und Dr. med. Ivo Bayard, Facharzt für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie.

Nachsorge ist ein langwieriger Prozess mit vielen Höhen und Tiefen. Was macht die Nachsorge der Lindenhofgruppe besonders?
Dr. med. Antonia Schmidt-Jakob: Was die Lindenhofgruppe ausmacht, sind die persönlichen Kontakte zwischen Ärztinnen und Ärzten und der Patientin. Aber auch unter den Ärztinnen und Ärzten. Die Patientinnen werden durch die gesamte Therapie und Nachsorge von den gleichen Ärztinnen und Ärzten begleitet. Je nach Kompetenzgebiet können sie die jeweiligen Kolleginnen und Kollegen bei Problemen unkompliziert und rasch beiziehen. Die Ärzteschaft der Lindenhofgruppe ist untereinander und mit Zuweisern sehr gut vernetzt. Wir pflegen einen engen Austausch mit Hausärztinnen und Hausärzten sowie Kolleginnen und Kollegen der Psychoonkologie, der Komplementärmedizin, der Physiotherapie und weiteren Disziplinen. Dieses Netzwerk bildet die Basis für eine gute Nachsorge. Wir begeben uns mit der Patientin auf einen Weg und suchen gemeinsam nach Lösungen.

Verzahnen sich dadurch auch die Verantwortlichkeiten?
Dr. med. Antonia Schmidt-Jakob: Es gibt sicher Überschneidungspunkte bei den Verantwortlichkeiten. Die Gynäkologin oder der Gynäkologe zum Beispiel ist zu einem Teil auch Hausärztin oder Hausarzt und Psychologin oder Psychologe der Patientin. Hier ist es wichtig, seine Grenzen zu kennen und zu wahren und im richtigen Moment das Netzwerk zu nutzen. Dabei ist uns die Breast Care Nurse eine grosse Hilfe als Bindeglied zwischen Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen. Sie unterstützt unser Team dabei, bedürfnisorientierte Lösungen zu finden – auch im psychosozialen Bereich. Eine alleinerziehende Mutter mit Krebs benötigt neben der Operation und Medikamenten auch praktische Hilfe, eine Vernetzung mit dem Sozialdienst, Unterstützung bei der Kinderbetreuung, im Haushalt und einiges mehr. 

Dr. med. Ivo Bayard: In der Nachsorge der Brustkrebsbehandlung verzahnen sich die Verantwortlichkeiten. Das bedeutet, dass je nach Phase der Behandlung unterschiedliche Fachpersonen stärker involviert sind. Bei Brustkrebs kann es Zeiten geben, in denen die Senologin oder der Senologe die Patientin eng begleitet. In anderen Phasen stehen wir als plastische Chirurginnen und Chirurgen häufiger in Kontakt. Wichtig dabei ist, die Bedürfnisse der Patientin früh zu erkennen – sei es medizinisch, rekonstruktiv oder auch psychologisch. Dank des Netzwerks und der kurzen Wege kann ich bei Bedarf unkompliziert eine Kollegin oder einen Kollegen einbinden. So entsteht eine persönliche, flexible und fortlaufende Betreuung.

«Jeder Krebs ist anders.»


Wie sehen Sie das Verhältnis von Expertise und Empathie?
Dr. med. Antonia Schmidt-Jakob:
Expertise ist unsere Grundlage. Man kann aber noch so einen ausgeklügelten Therapieplan im Tumorboard aufstellen. Wenn die Patientin andere Vorstellungen hat, bringt dieser ganze Plan nichts. Das ist vor allem in der Nachsorge wichtig. 30 bis 50 Prozent der Frauen setzen das Antihormonpräparat vorzeitig ab oder nehmen es anders ein als vorgeschrieben. Aber nur die Hälfte davon sagt es uns. Die nicht verwendeten Medikamente landen in der Toilette oder im hintersten Eck der Schublade. Deshalb müssen wir der Patientin Raum geben. Damit sie ohne Scham sagen kann, dass sie die Tabletten nicht mehr nehmen will. Wir müssen offen mit den Frauen über den Nutzen der Therapie sprechen. Dieser ist unterschiedlich gross, je nach Art der Krebserkrankung. Jeder Mensch hat ein unterschiedliches Sicherheitsbedürfnis und anderes Risikoempfinden. Nicht jede Frau würde für einen geringen Überlebensvorteil Nebenwirkungen in Kauf nehmen. Andere aber sehr wohl. So können wir gemeinsam einen Weg finden. 

Wo ziehen Sie für sich die Grenze der Empathie?
Dr. med. Ivo Bayard: Empathie ist sehr wichtig. Die Patientinnen befinden sich häufig zum ersten Mal in einer solchen Extremsituation. Hier gilt es, empathisch zu sein, die Patientin zu stützen und zu beraten, aber keine falschen Hoffnungen zu machen. Wie überall im Leben gibt es Fälle, bei denen es einem gelingt, sich abzugrenzen. Andere aber gehen einem näher. 

Dr. med. Antonia Schmidt-Jakob: Das ist so. Je länger man diesen Beruf ausübt, desto mehr spürt man, dass es möglich ist, Empathie zu zeigen, ohne daran zu zerbrechen. Bei aller Tragik erlebt man mit den Patientinnen auch schöne oder sogar von Humor getragene Momente, die Kraft geben. Auch ich lerne viel von den Patientinnen. Ich habe einige von ihnen bis zum Ende begleitet und erinnere mich noch immer gerne an sie. Es ist immer eine Herausforderung, in einer solchen Situation einen Weg zu finden. 

Können Sie sich an einen Fall bei der Nachsorge erinnern, der Ihnen positiv in Erinnerung geblieben ist?
Dr. med. Ivo Bayard: Da gibt es sehr viele Fälle. Im Rahmen der Krebsdiagnose haben wir einige Patientinnen, die nicht nur durch die Operation des Krebses profitieren. Einige haben zum Beispiel eine sehr grosse Brust, unter der sie sehr gelitten haben. Sie haben sich auch mit einer möglichen Verkleinerung schon länger auseinandergesetzt. Nun eröffnet sich die Möglichkeit, beides miteinander zu kombinieren. Diese Art der Operation nennt man eine onkoplastische Reduktion. Also einerseits das von Krebs befallene Gewebe entfernen und andererseits die Brust verkleinern. In den letzten Jahren habe ich mehrere solcher Fälle behandelt. Trotz der einschneidenden Diagnose konnten diese Patientinnen so für sich noch etwas Positives aus ihrer Situation ziehen. 

«Ich freue mich immer auf die Patientinnen, die zu mir kommen.»


Dr. med. Antonia Schmidt-Jakob: Ich freue mich immer auf die Patientinnen, die zu mir in die Nachsorge kommen. Es sind häufig schöne Erlebnisse, wenn man sieht, wie diese Frauen wieder Kraft und Vertrauen finden. Ich kann mich an eine Patientin erinnern, die wahnsinnig Angst hatte, dass der Krebs zurückkehrt. Sie hat jedes kleinste Ziehen als Rückfall interpretiert. Zusammen mit der Psychoonkologin und der Onkologin haben wir ein engmaschiges Nachsorgekonzept aufgestellt, bis das Vertrauen in den eigenen Körper langsam wieder zurückgekehrt ist. Die Patientin hat mittlerweile in ihrem Ort eine Selbsthilfegruppe gegründet. Sie weiss, wovon sie spricht, wenn sie jetzt anderen Frauen Zuversicht gibt und ihnen die Ruhe schenkt, die sie selbst wiedergewonnen hat. Sie ist jetzt 6 Jahre nach ihrer Diagnose voll im Vertrauen und kommt von nun an einmal im Jahr zu mir – ohne Angst. Eine andere Patientin ist eine junge Mutter, die gerade ihr zweites Kind bekommen hatte, als wir den Krebs und eine Genmutation diagnostizierten. Sie hatte eine Chemotherapie und im Anschluss eine beidseitige Brustdrüsenentfernung mit Wiederaufbau. Zu alledem ging auch noch die Beziehung mit ihrem Partner in die Brüche. Von dieser beeindruckenden und tapferen Frau habe ich gelernt, wie man sein Netzwerk nutzen kann. Sie hat sich an allen Ecken und Enden Hilfe geholt. Sie hat Aufgaben delegiert und alle Hilfe ohne schlechtes Gewissen angenommen. Das hat mir imponiert. Das rate ich auch allen Frauen: Nehmen Sie die Hilfe an. Helfen fühlt sich gut an, die meisten Menschen machen das von Herzen gern. 

Wie lange dauert es, bis die Patientinnen wieder Vertrauen in den eigenen Körper gewinnen?
Dr. med. Antonia Schmidt-Jakob: Das ist sehr unterschiedlich. Bei einigen dauert es Jahre. Wir können die Patientinnen in diesem Prozess unterstützen. Körperarbeit, Sport und Bewegung helfen hier sehr: sichtbar machen, was der eigene kostbare Körper kann – und nicht nur, wo er Narben trägt und schmerzt.
Manchmal benötigen die Frauen mentale Unterstützung, psychoonkologische Betreuung oder ein Coaching.
Wenn all das nicht hilft, sehe ich sie zum Teil in kürzeren Abständen. So können sie mir die Verantwortung ganz abgeben und zwischen den Kontrollen weniger Gedanken an die vergangene Erkrankung verschwenden. Dabei wechsle ich mich teils mit den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten der Gynäkologie, der Onkologie und Hausärztinnen und -ärzten ab. 

Was beschäftigt Patientinnen am meisten bei der Nachsorge?
Dr. med. Ivo Bayard: Aus meiner Sicht sind es vor allem zwei zentrale Themen. Zum einen die Angst vor einem Rückfall. Die Sorge, der Krebs könnte zurückkehren, begleitet viele Patientinnen über lange Zeit. Zum anderen geht es darum, wieder Vertrauen in den eigenen Körper zu finden. Das schliesst auch die Akzeptanz der wiederhergestellten Brust mit ein. Sich mit dem veränderten Körperbild anzufreunden, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zurück in ein neues Körpergefühl. 

Wie wichtig ist die Partnerin oder der Partner dabei?
Dr. med. Antonia Schmidt-Jakob: Das ist ein wichtiges Thema. Die Partnerinnen oder Partner leiden oft sehr. Sie haben grosse Hemmungen, das auszusprechen und sich Hilfe zu holen. Daher ist es wichtig, dass sie sich melden können, wenn sie die Situation überfordert. Der Partner oder die Partnerin kann von einem externen Gesprächspartner profitieren. Einer Person, bei der sie ungeschönt alle Sorgen und Bedenken äussern können. Einer Person, die das ganze Konstrukt stützt, zum Beispiel eine Hausärztin oder ein Hausarzt. Eine sensible Phase ist oft der Therapieabschluss. Das berühmte Loch, in das man fällt, wenn der erste Kampf gekämpft ist und Ruhe einkehrt. Die Partnerinnen und Partner haben häufig gestützt, kompensiert, ausgehalten – und sich selbst vergessen. Daher ist es wichtig, bereits am Anfang darauf hinzuweisen, dass sie Hilfe in Anspruch nehmen können und sollen. 

Welche Tipps geben Sie Ihren Patientinnen während der Nachsorge?
Dr. med. Antonia Schmidt-Jakob: Ein wichtiges Thema ist hier die Selbstwirksamkeit. Die Frage: Was kann ich als Patientin selbst tun? Also herauszufinden, wie man seine innere körperliche und mentale Abwehr stärken kann. Ich empfehle einen gesunden Lebensstil, der Spass macht. Also regelmässige Waldspaziergänge oder einen Treppen-Sprint zwischendurch. Schwimmen oder Aqua-Gym sind auch super: die beste Lymphdrainage und gut für die Gelenke. Endlich mal den Paartanzkurs machen, der schon lange geplant war. Ein feines Linsencurry mit Freunden geniessen oder den Tag mit einem Chiajoghurt mit frischen Beeren und Walnüssen beginnen. Diese Dinge pflegen die Darmflora und somit auch das Immunsystem. Wenn ein Problem auftaucht, sollten sie aber besser zu uns kommen. So können wir zusammen reden und gemeinsam eine Lösung finden. 

«Heute gibt es sehr gute Möglichkeiten, die Brust entweder zu erhalten oder wiederherzustellen.»


Dr. med. Ivo Bayard: Ich ermutige meine Patientinnen vor allem zu Geduld – und zwar nur für die körperliche Heilung. Narben brauchen Zeit. Dabei reden wir nicht von Wochen, sondern von Monaten und manchmal auch Jahren. Die Kombination aus der körperlichen Heilung und dem wiedergewonnenen Vertrauen gibt einem dann ein Gefühl, dass man sich in seinem eigenen Körper wieder wohlfühlen kann. 

Welche Rolle spielt die Ästhetik für das Selbstbewusstsein der Patientinnen?
Dr. med. Ivo Bayard: Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt Patientinnen, denen es das Wichtigste ist, dass der Krebs weg ist, und für die Ästhetik eine untergeordnete Rolle spielt. Andere kommen mit einem sehr hohen ästhetischen Anspruch. Für sie ist es fast das Schlimmere, dass ihre Brust durch die Operation einen Makel erleiden könnte. Heute aber gibt es sehr gute Möglichkeiten, die Brust entweder zu erhalten oder wiederherzustellen. Einige kommen auch zu uns und können in diesem Moment nur an den Krebs denken. Sie haben nicht den Kopf dafür, vorausschauend zu entscheiden. Hier ist es wichtig, Möglichkeiten aufzuzeigen, sodass die Patientinnen sich gut informiert für die Weiterbehandlung entscheiden können. 

Dr. med. Antonia Schmidt-Jakob: Das Stigma Brustkrebs verschwindet. Vor einigen Jahren noch hat man seine Narben versteckt. Die meisten Frauen hätten sich nach einer offensichtlichen Brustoperation nicht mehr in der Sauna oben ohne gezeigt. Das wandelt sich langsam. Die Reaktionen des Umfelds sind meist positiv oder verständnisvoll. Die Toleranz gegenüber dem «Andersartigen» und «Unperfekten» wächst ständig. Und was ist schon perfekt? Das ist natürlich nur ein Teil der Medaille. Um sich selbstbewusst zu fühlen, benötigt man nicht nur die Akzeptanz der anderen, sondern vor allem seiner selbst. Und der Weg zu Selbstakzeptanz ist, wie viele von uns wissen, eine Herausforderung.

Welchen Einfluss hat die DKG-Zertifizierung auf das Thema Nachsorge?
Dr. med. Antonia Schmidt-Jakob: Die Zertifizierung mit den jährlichen Supervisionen gewährleistet, dass die Nachsorge strukturiert und gemäss den Leitlinien erfolgt. In jedem Operationsbericht ist zum Beispiel das Nachsorgeschema abgebildet. Der Bericht geht nicht nur an die betreuenden Ärztinnen und Ärzte, sondern auch an die Patientin. So kann sie sich orientieren und weiss, in welchen Abständen eine klinische Untersuchung oder Bildgebung erfolgen sollte. Das gibt ihr Halt in dieser Situation der Unsicherheit, in der das Vertrauen in den eigenen Körper erschüttert wurde. Wir stimmen den Prozess individuell auf die Patientin ab. Jede Frau funktioniert anders, hat andere Vorstellungen und auch andere Ängste. Auch das Rückfallrisiko ist je nach Art der Krebserkrankung unterschiedlich hoch. All das hat Einfluss auf unsere Beratung und die Gestaltung der Nachsorge. 

Dr. Ivo Bayard: Als plastischer Chirurg bin ich Teil des interdisziplinären Teams des DKG-zertifizierten Brustzentrums. Die frühzeitige Zusammenarbeit ermöglicht eine gemeinsame Planung der Rekonstruktion der Brust – individuell, abgestimmt und nach aktuellen Standards. Bildgebung und Verlaufskontrollen erfolgen strukturiert, was gezielte Korrekturen zum richtigen Zeitpunkt erlaubt. 

«Die DKG-Zertifizierung ist ein Qualitätsmerkmal, auf das man stolz sein kann.»


Die Zertifizierung ist somit ein relevantes Qualitätsmerkmal?
Dr. med. Ivo Bayard:
Die Zertifizierung ist in gewissem Masse auch ein Qualitätslabel. Es zeigt, dass man alle Behandlungsmodalitäten und Fachdisziplinen im Boot hat, die für eine moderne leitliniengerechte Brustkrebstherapie und die Nachsorge notwendig sind. 

Dr. med. Antonia Schmidt-Jakob: Die Audits setzen eine interne Qualitätskontrolle und Überprüfung unserer Zahlen, Strukturen und Abläufe voraus. Hier leistet unser Team vom Tumorzentrum wertvolle und gründliche Arbeit. Bei den Supervisionen wird dies dann detailliert von externen gynäko-onkologischen Spezialistinnen und Spezialisten analysiert und überprüft. Ich finde diesen Austausch interessant und bereichernd. Das Feedback ist in den letzten Jahren erfreulicherweise immer sehr positiv ausgefallen. Die DKG-Zertifizierung ist ein Qualitätsmerkmal, auf das man stolz sein kann.

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